Gemeinsam erforschen die Architektin und Städtebauerin Professorin Julia Siedle von der Hochschule Biberach und die Architekturtheoretikerin und Ökonomin Anamarija Batista, die in Wien lebt und arbeitet, wie sich unsere Städte verändern und wie neue Lebens- und Begegnungsräume gestaltet werden können. Im Gespräch berichten die Wissenschaftlerinnen von ihren Ergebnissen – und davon, wie männlich dominierte Machtstrukturen aufgebrochen werden können. Ein Interview zum Weltfrauentag.

Bild: Professorin Julia Siedle lehrt im Studiengang Architektur Wohnungsbau, Quartiers- und Bestandsentwicklung

Julia Siedle, Professorin für Wohnungsbau, Quartiers- und Bestandsentwicklung
Prof. Julia Siedle, Architektin und Städtebauerin

Sie forschen gemeinsam zu der Fragestellung, ob Städte obsolet werden. Was untersuchen Sie genau? AB: Städte werden natürlich nicht obsolet! Aber bestimmte Gebäude und Territorien, viele aus der Zeit der Moderne, fallen durch gesellschaftliche Transformationsprozesse aus der Nutzung. Dazu gehören z.B. Einzelhandelsimmobilien, Bürogebäude, Kfz-Infrastruktur, aber auch Kirchen und Friedhöfe. Gleichzeitig entstehen neue Raumbedarfe. Wir fragen uns, wie man die beiden mit dem bestmöglichen räumlichen Ergebnis und dem geringstmöglichen Ressourcenaufwand zusammenbringen kann.

Können Sie Beispiele nennen? JS: Nehmen wir Parkhäuser. Diese liegen oft zentral und werden immer weniger genutzt. Gleichzeitig fehlen dort massiv Wohnungen. Durch die geringen Geschosshöhen von plus minus 2,50 Metern lässt sich so ein Parkhaus aber nicht einfach zum Wohnen umnutzen. Allerdings kann man in der Regel relativ einfach einzelne Geschossplatten herausnehmen. Die Geschosshöhe verdoppelt sich und auf einmal eignet sich das Parkhaus z.B. hervorragend als Ort der urbanen Produktion, ähnlich wie ein Handwerkerhof – eine Nutzung, die ebenfalls dringend gebraucht wird.

Das hilft dem Wohnungsbau aber nicht… JS: Doch, wenn man das Gebäude mit zusätzlichen Wohngeschossen in Leichtbauweise aufstockt. Oder man nimmt die zweigeschossigen Räume zum Ausgangspunkt für neue Wohnformen, die neue Raumkonstellationen mit gemeinschaftlich genutzten Bereichen und einer ganz eigenen Atmosphäre aufweisen. Die Charakteristika verschiedener obsolet werdender Immobilientypen und ihre Potenziale lassen sich, ähnlich wie in diesem Fall, prototypisch beschreiben. Welche von ihnen aus der Nutzung fallen und welche neuen Funktionen sie sinnvollverweise übernehmen können, das untersuchen wir.

Architekturtheoretikerin und Ökonomin Anamarija Batista
Architekturtheoretikerin und Ökonomin Anamarija Batista, Wien

Welche Megatrends wirken sich aktuell am stärksten auf unsere Städte und damit unser Zusammenleben als Gesellschaft aus? AB: Im Wesentlichen sind das die Digitalisierung und die Klimaerhitzung. Beide ziehen eine Reihe von Entwicklungen nach sich, die unsere Städte und damit unser Leben in ihnen nachhaltig verändern: wir kaufen zunehmend online ein, der stationäre Einzelhandel verliert seine Funktion. Orte der Begegnung brechen weg, nicht nur dort, wo wir uns bisher beim Einkaufen getroffen haben, sondern auch wo Kirchen und Gemeindehäuser soziale Fixpunkte waren, die in einer immer ausdifferenzierteren Gesellschaft ihre Bindungskraft verlieren und geschlossen werden.

Bild: Die Architekturtheoretikerin und Ökonomin Anamarija Batista lebt und arbeitet in Wien/Foto: Nevena Janković

 

Wie sieht es mit der Arbeitswelt aus? JS: Die Art wie viele von uns arbeiten, verändert sich, wir brauchen dafür andere Räume: weniger und andere Bürogebäude, mehr wohnungsnahe, dezentrale Arbeitsorte. Wohnquartiere bekommen eine neue Bedeutung. Auch die Mobilität wird eine andere. Das Ende des Verbrenners führt u.a. zu obsoleten Tankstellen, Parkinfrastrukturen, Straßenräumen.

Wie werden sich unsere Städte dadurch verändern? AB: Aus der Vogelperspektive vermutlich gar nicht so stark. Bestehende Gebäude verändern aber ihr Gesicht. Sie werden immer seltener abgerissen, weil die so genannte ‚graue Energie‘, die in Form des verbauten Materials und des Herstellungsaufwands in ihnen gespeichert ist, an Wert gewinnt. Was drin ist, wird aber, gerade bei großflächigen Gebäuden außerhalb der Innenstädte, grundlegend transformiert und vielerorts diverser, gemischter – und dichter.

JS: Die Zonen einer Stadt werden so vermutlich einen Umwertungsprozess erleben: Wo heute Ausfallstraßen sind, findet man viele obsolete Gebäude und Territorien - und Platz für Neues. Das macht diese Orte erst als solche wahrnehmbar und vielleicht auch attraktiv.

Werden Städte dadurch als schöner wahrgenommen? JS: Vorstellbar ist, dass es auch zu einer ästhetischen Umwertung kommt, ähnlich wie im Falle von Zweckbauten aus der Zeit der Industrialisierung, die viele heute als schön empfinden. Der immaterielle Wert, das Identifikationsmoment, das kulturelle, soziale und atmosphärische Potential von Gebäuden bezeichnet man als ‚goldene Energie‘. Und die schlummert auch dort, wo wir sie vielleicht heute noch nicht sehen.

Können Grünflächen geschaffen werden?AB: Klimaanpassung und Klimaschutz sind natürlich große Themen. Wir brauchen ein engmaschiges Netz gut gestalteter Grünräume, um die Stadt als Lebensraum überhaupt zu erhalten. Zum einen im Sinne der „Schwammstadt“ zur sommerlichen Kühlung und um Starkregen abzupuffern, zum anderen als Biotop für Tiere, Pflanzen und Menschen, als soziale Orte, die es uns ermöglichen, mit „dem Anderen“ in Kontakt zu kommen – ein elementarer Grund übrigens dafür, dass es uns überhaupt in die Stadt zieht.

JS: Überall dort, wo einzelne Nutzungen große Grundstücke einnehmen, wie z.B. im Falle von Discountern mit großen Parkplätzen, müssen wir Flächen entsiegeln. Und Städte müssen zu Orten der Energieerzeugung werden.

Welche Lösungsansätze haben Sie gefunden? AB: Die verschiedenen Gebäudetypus, die wir untersucht haben, vom Kaufhaus übers Kino bis zum Bürogebäude und zum Gemeindehaus „können“ sehr unterschiedliche Dinge – sie alle haben räumliche Potenziale, die wir in den Städten dringend brauchen: sie können für Wohnen, Klimaanpassung und -schutz, urbane Produktion, Bildung, Soziales und Kultur transformiert werden. Allgemein finden wir es wichtig zu zeigen, dass die Transformation von Gebäuden ungeheuer schöne und vielfältige Orte erzeugen kann, identitätsstiftende Orte des Gemeinwohls.

JS: Die Frage des „Wie“ ist dabei natürlich sehr wichtig. Es gilt immer sorgfältig abzuwägen zwischen Umnutzung, Verdichtung und Rückbau zugunsten des Klimas. Wir glauben, dass wir dafür an einigen Stellen an einer Änderung der Regeln des BauGB nicht vorbeikommen. Für Eigentümer*innen und Planende muss es leichter werden, umzubauen und umzunutzen und für Kommunen muss es leichter werden, auch im Kontext zersplitterter Eigentumsverhältnisse gemeinwohlorientiert und strategisch zu planen. Die andere Frage ist die der Finanzierung. Da geht es dann um bodenpolitische und steuerliche Instrumente.

Können die Potenziale, die Sie im städtischen Raum erkennen auch auf den ländlichen Raum übertragen werden? JS: In vielen Punkten, ja. Wir haben es in Deutschland mit einer weitgehend urbanisierten Landschaft zu tun, die ähnliche Gebäudetypen und Strukturen aufweist. Und die Notwendigkeit, auf Flächenversiegelung zu verzichten, ist hier ebenso da wie in den großen Zentren. Die Marktmechanismen sind aber natürlich je nach Region sehr unterschiedlich.

Sie arbeiten interdisziplinär zusammen als Architektin und Städtebauerin sowie als Architekturtheoretikerin und Ökonomin. Wie gestalten Sie diese Zusammenarbeit und inwieweit kommen Sie so auf andere Erkenntnisse? AB: Wir interessieren uns für die Perspektive der jeweils anderen und lassen uns darauf ein. Wir diskutieren sehr viel. Und manchmal hart. Wir teilen die Arbeit nicht nach Fach auf, sondern arbeiten wirklich zusammen an unseren Texten und Bildern.

JS: Das Beste ist, wenn man das Gefühl hat, da ist jetzt ein Aha-Moment entstanden. Vielleicht ist das nicht unbedingt eine Frage des Faches sondern, vielmehr des Miteinanders.

Ich selbst hatte das Glück, dass ich während meiner Bewerbungsphase eine fantastische Mentorin an meiner Seite hatte, die ihren Schatz an Systemwissen und Erfahrung mit mir geteilt hat. Das war unglaublich wertvoll.

Professorin Julia Siedle

Architektur, Städtebau, Kulturwissenschaft und Ökonomie – sind Ihre Tätigkeitsbereiche männlich dominiert? JS: In der Ausbildung nicht – da sind in den Hör- und Zeichensälen und im wissenschaftlichen Mittelbau Männer sogar tendenziell in der Minderheit. Das war schon vor 15 oder 20 Jahren so, als wir studiert haben. In den Entscheidungspositionen sieht es aber anders aus, obwohl es einen breiten Konsens gibt, dass wir Diversität, auch jenseits von Gender, wollen und brauchen. Auch, und das ist uns sehr wichtig, weil sich soziale und ökologische Nachhaltigkeitsfragen nicht voneinander trennen lassen.

 

Welche Gründe sehen Sie hierfür? AB: Das Patriarchat! Gesellschaftliche Rollenbilder und Verhaltensmuster sitzen einfach unglaublich tief und sie werden weitergegeben. Dazu gibt es ja viel Forschung. Diejenigen, die Machtpositionen bekleiden, suchen ihresgleichen als Kolleg*innen oder Nachfolger*innen aus, also z.B. Männer, Weiße, Personen mit einem bestimmten Habitus.

JS: Und sie werden typischerweise sogar auch von anderen Bevölkerungsgruppen als besonders kompetent wahrgenommen. Wir sind keine Soziologinnen, aber unser Eindruck ist, dass auch Architekt*innen und Städtebauer*innen patriarchale Strukturen reproduzieren, auch wenn sie das eigentlich selbst nicht möchten. Das zeigt, wie schwer es ist, das zu ändern.

Kollage Siedle
Kollage Siedle

Was braucht es, damit das dennoch gelingt? JS: Es geht nur mit knallharten Regeln! Und mit Empowerment durch gegenseitige Unterstützung. Ich selbst hatte das Glück, dass ich während meiner Bewerbungsphase eine fantastische Mentorin an meiner Seite hatte, die ihren Schatz an Systemwissen und Erfahrung mit mir geteilt hat. Das war unglaublich wertvoll.

Inwieweit können Sie selbst als Role Model fungieren? JS: Ob wir das können, wissen wir nicht – das ist ja auch immer eine persönliche Frage. Wir können es auf jeden Fall versuchen! Wir engagieren uns jetzt beide zum ersten Mal als Mentorinnen in einem Mentoring-Programm und hoffen, in diesem Rahmen etwas von der Unterstützung weiter geben zu können.

Ihre gemeinsame Arbeit haben Sie in einem Buch zusammengestellt, das bald bei Birkhäuser erscheint, einem führenden Verlag u.a. für Architektur. Worauf können sich die Leser*innen freuen? AB: Im Buch geht es um die Typologien der Obsoleten Stadt. Wir dröseln anhand von Zeichnungen und Luftbildern prototypische „Fähigkeiten“ von neun verschiedenen Immobilientypen auf und zeigen andererseits, wo die Schwierigkeiten einer Transformation liegen.

JS: Wir haben tolle Transformationsbeispiele zusammengetragen und wollen den Leser*innen helfen, Parkhäuser und Tankstellen, Kaufhäuser und Einkaufszentren, Betonkirchen, Bürogebäude und so weiter in einem anderen Licht zu sehen – und nachhaltige und gemeinwohlorientierte Zukünfte für sie zu erträumen. Denn solche Zukunftsbilder sind ja die Voraussetzung für positive Veränderungen.

Grafik: Transformationsmöglichkeiten des Typus Parkhaus als urbaner Hybrid. Links: Mobility Hub + Sportnutzungen, rechts: öffentliches EG + Wohnen / Credits: Elias Eichhorn

 

Das Buch erscheint im Herbst 2024:

Anamarija Batista, Julia Siedle: Typologies of the Obsolete City. Transformation Potentials and Scenarios. Birkhauser (Verlag), 978-3-0356-2805-0 (ISBN)

Transformationsmöglichkeiten Stätdebau und Architekur
Transformationsmöglichkeiten Forschung Professorin Julia Siedle