"Come and find your northern factor"

Aber der Reihe nach: Unsere Reise sollte uns am 27. Februar 2020 direkt an den Polarkreis führen – genau gesagt nach Rovaniemi in Lappland. Wir hatten eine Einladung zur International Week der Lapland University of Applied Sciences (Lapland AUS) erhalten und das Abenteuer „Winter in Lappland“ wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Also folgen wir dem Aufruf unserer Partnerhochschule: „Come and find your northern factor.“

Corona war zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch weit weg aus dem persönlichen Alltag. Ein Lockdown – wie er damals bereits in China in Kraft war - war außerhalb unserer Vorstellungskraft. Aber bereits am Flughafen in München rückte mit den ersten Präventionsmaßnahmen das Thema Corona näher an uns heran. Doch wir sagten uns: „Reisen wir nicht praktisch ans Ende der Welt, in der Taiga gibt’s doch kein Corona, … oder?!“ Wir lernen, dass unsere finnische Fluggesellschaft über ihren Hub in Helsinki viele Asienflüge abwickelt, da von dort wegen der Erdkrümmung die Flüge in den Fernen Osten besonders kurz sind. Ob wir doch einen Mundschutz wie viele unserer Mitreisenden tragen sollten? Ach was, wir lassen uns von der Panik nicht anstecken. Wir fliegen also los und versuchen die folgenden Stunden jedem Husten oder Niesen anderer Passagiere durch großzügiges Händedesinfizieren und gezieltes Wegducken auszuweichen.

Rovaniemi Reisebericht
Rovaniemi Reisebericht

Kein Gepäck - keine Winterklamotten - keine Workshop-Utensilien

Vier Stunden später steigen wir um 17.30 Uhr Ortszeit und bei erfrischenden -20°C aus dem Flugzeug: Nach dem bislang milden Winter in Deutschland freuen wir uns endlich über Schnee – sogar die Landebahn ist schneebedeckt. Am Gepäckband wartet gleich das nächste Hindernis auf uns: Als das Gepäckband definitiv zum Stillstand gekommen ist und wir immer noch keinen unserer drei Koffer bekommen hatten, stellt sich heraus, dass unser Gepäck einem Streik des Bodenpersonals in Helsinki zum Opfer gefallen war und wir uns wohl für’s Erste mit unserem Handgepäck würden begnügen müssen: Aber mit Laptop, Smartphone und Fotoapparat lässt sich schlecht den -20°C Außentemperatur trotzen.

Es fehlte alles: Angefangen bei der Zahnbürste, über warme Winterstiefel und Skiunterwäsche bis hin zu den Utensilien für unseren Workshop an der Hochschule. Man sagt uns, wir sollten am späten Abend noch einmal zum Flughafen kommen. Bis dahin würden zwei weitere Maschinen aus Helsinki angekommen sein und vielleicht würde da unser Gepäck dabei sein.

Wir setzen uns also in Richtung unserer Unterkunft in Bewegung. Wir checken in unser Chalet ein und beschließen zunächst die lokale Küche auszuprobieren. Nach einem Rentier-Burger ist unser Tatendrang zurück: So schnell würden wir unser Gepäck nicht aufgeben. Um 22:30 Uhr sind wir zurück am Flughafen auf der Suche nach unseren vermissten Koffern. Da sind wir allerdings nicht die Einzigen: Wir erfahren, dass in Helsinki 7.000 Gepäckstücke auf ihre weltweite Weiterreise warten. 7.000 Koffer wollen erst einmal abgearbeitet sein. So schnell sind wir aber offensichtlich nicht an der Reihe, unsere Koffer bleiben zumindest für diesen Abend unauffindbar. Um 23:30 Uhr setzen wir unserer Suche ein vorläufiges Ende und besteigen erneut ein Taxi zurück Richtung Hotel. Glücklicherweise gibt es in Finnland Supermärkte, die bis spät in die Nacht geöffnet haben. Es folgt ein Noteinkauf von Zahnpasta, Duschgel, Deo und drei Zahnbürsten. Zurück in unserer Hütte schlüpften wir unter die Bettdecken – etwas frisch so ganz ohne Pyjamas. Entnervt und müde kommt von Isabell Osann die Frage: „Warum sind denn so viele Eisblumen an unserem Fenster?“ Worauf von Verena Rath die wenig energiewirtschaftlich fundierte Fachantwort folgt: „Weil das Haus schlecht gedämmt ist.“ Nach elf Stunden Reise, Gepäcksuche, Frieren und Müdigkeit dürfen auch die energiewirtschaftlichen Analysen dünner werden…

Rovaniemi Reisebericht
Rovaniemi Reisebericht

Doch bevor die Studierenden und wir richtig zum Arbeiten kommen, müssen wir uns auch hier kleineren Widrigkeiten stellen: Um den Beamer zum Laufen zu bringen, ist zunächst einiges fachkundiges Verständnis erforderlich. Kein Wunder beim Blick in den Kabelkasten…. Verena Rath muss feststellen, dass -4 Dioptrien auf beiden Augen durchaus ein Handicap in einer Vorlesung darstellen, wenn sich sowohl Kontaktlinsen als auch Brille noch im Koffer im 800 km entfernten Helsinki befinden.

Isabell Osann stellt unter Beweis, dass sie mit viel Kreativität das ebenfalls fehlende Kreativmaterial ersetzen kann: Für das Picture Brainstorming müssen es ein paar Prospekte über Lappland aus der Lobby der Hochschule tun, Papierklemmen lassen sich auch für zahlreiche andere Anwendungen nutzen und in mancher Damenhandtasche findet sich zufällig doch noch eine Schachtel „Lego Serious Play“. Unsere Mühen werden trotz aller Widrigkeiten belohnt: Die Studierenden entwickeln tolle Ideen für einen nachhaltigen Arktistourismus. So entsteht beispielsweise die Idee für eine App, über die die Bewohner Lapplands Outdooraktivitäten wie Eisbaden, Eisfischen, Huskytouren oder Unterkünfte anbieten können – ganz nach dem Motto: Share the Arctic.

Wie im Wintermärchen

Unsere Gastgeber und Kolleginnen der Lapland UAS sind mehr als zufrieden mit den gelungenen Workshopergebnissen und wir wiederum freuen uns, dass wir künftig BWL-Studierende der Hochschule Biberach über das Erasmusprogramm der Europäischen Union nach Rovaniemi werden schicken können. Nach dem Ende des erfolgreichen Arbeitstages wenden wir uns wieder der Suche nach unserem vermissten Gepäck bzw. der Ersatzbeschaffung der notwendigsten Utensilien zu. Wir machen uns auf den Weg in die Innenstadt und erstehen in einem großen Einkaufscenter das Notwendigste, um eine weitere Nacht ohne Gepäck bestreiten zu können. Vor dem Regal mit den T-Shirts diskutieren wir dann die entscheidende Frage: „Baumwolle oder Synthetik?“ Henrike Mattheis plädiert ganz klar für Synthetik. „Warum das? Weil ich das nach einmaligem Gebrauch wegschmeißen kann, oder was?!“, fragt Isabell Osann. Die praxisdienliche Antwort von Henrike Mattheis: „Nein. Synthetik können wir waschen und das trocknet bis zum nächsten Tag“. Wenn wir uns dieses Mal also nicht für Biobaumwolle entscheiden; das für die Synthetikfasern recycelte Plastik lässt sich vielleicht auch als Beitrag zu einer „Circular Economy“ betrachten.

Zwei Stunden später erhalten wir beim Abendessen endlich die erlösende Nachricht: Der Fluggesellschaft ist es gelungen, aus den 7.000 Gepäckstücken in Helsinki die drei zu uns gehörenden Koffer zu identifizieren. Noch im Lauf des Abends sollten sie in unserer Hütte eintreffen. Der für den Folgetag geplanten Huskysafari würde also nichts mehr im Wege stehen. Nach dem Essen machen wir uns auf den Heimweg und nehmen freudestrahlend unser Gepäck entgegen. Wir wechseln endlich in Skiunterwäsche, warme Pullover und dicke Winterstiefel. Und um den Abend für uns perfekt zu machen, zeigt sich das magische Nordlicht von seiner schönsten Seite. Grüne Lichter tanzen über die schneebedeckte Landschaft und wir fühlen uns wie im Wintermärchen. Wir haben unseren „northern factor“ gefunden.

 

"Stelle dich dem Unerwarteten"

Die Dienstreise nach Rovaniemi hat uns wieder einmal selbst erfahren lassen, was wir sonst immer unseren Studierenden für ihr Auslandssemester mit auf den Weg geben: Internationalisierung bedeutet: Stelle Dich dem Unerwarteten…. Manchmal sind Reisen ins Ausland mit Widerständen und Herausforderungen verbunden – aber Du kommst immer inspiriert und erfüllt von neuen Eindrücken zurück. Heute – vier Monate später – kommt noch eine weitere Erkenntnis hinzu: Reisen werden bis auf Weiteres nur begrenzt möglich sein, Internationalisierung wird in den nächsten ein bis zwei Jahren vorzugsweise vor dem Bildschirm zu Hause stattfinden. Und wenn auch auf diese Weise die Welt vor dem Bildschirm näher zusammenrückt und Videokonferenzen die Internationalisierung um eine digitale Komponente bereichern: Die echten Erlebnisse eines Auslandsaufenthalts wird eine „Virtual Mobility“ auch in Zukunft nicht ersetzen können. Flexibel mit Unsicherheit umzugehen, selbstständig zu handeln, sich in fremde Kulturen und Denkweisen einzufühlen und mit anderen Menschen über kulturelle Grenzen hinweg erfolgreich zusammenzuarbeiten lernt man nur durch „Vor-Ort-Erlebnisse“. In diesem Sinn: Kommen Sie gut durch diese Krise, die Welt wird danach eine andere sein – aber freuen wir uns trotzdem darauf, unsere internationalen Partner und Freunde wieder „in echt“ zu treffen, sobald es die Rahmenbedingungen erlauben.

Rovaniemi Reisebericht
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